In Buchenau hat es über die Jahrhunderte immer jüdische Mitbürger gegeben. Die letzten wurden im Konzentrationslager 1943 umgebracht. Zu Ihrem Gedenken haben wir an Ihrem letzen Wohnort Stolpersteine verlegt.
Nachdem im Jahre 2017 nun das Reformationsfest mit 500 Jahre Reformation gefeiert wurde und Martin Luther und Seine Thesen dort gepriesen wurden tut es weh wenn dieser große Antisemitist positiv dargestellt wird.

Ein guter Brief hierzu aus 2008:

Die dunklen Seiten des "großen Deutschen" Martin Luther - Nachbesinnung auf den Reformationstag
Von F. W. Siebert ev. Pfarrer i.R.

Liebe FreundInnen und Verwandte,
die Nachbesinnung auf den Reformationstag stellt gewissermaßen auch eine Vorbesinnung hinsichtlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht vom November 1938 dar. Aufgewachsen in einem evangelischen Elternhaus und früh mit Martin Luther als einem "Helden des Glaubens" in Berührung gekommen, ist es mir ein nicht zu verdrängendes Bedürfnis, mich über die Schattenseiten des "großen Deutschen" zu äußern. Für wen ist es nicht schmerzlich, wenn Vorbilder seiner Kindheit und Jugend plötzlich auch - das geschah bei mir erst als ich schon um die 40 war - eine grässliche Fratze zeigen?
Friedrich W. Siebert, Pfarrer i.R.Friedrich W. Siebert, Pfarrer i.R.

Darüber wollte ich mich mal äußern, aber nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern zumindest Euch als Adressaten in mein nachdenkendes Entsetzen einbeziehen. Vielleicht habt Ihr ja mal ein paar Minuten Zeit für die Schattenseiten des Herrn Dr. Luther:
Während der frühe Luther sich noch Hoffnungen machte, die Juden zum Christentum bekehren zu können und sie als Blutsverwandte,Vettern und Brüder des Herrn ansieht, verlässt er später gänzlich diese Linie, da alle Bekehrungsversuche vergeblich waren. Er sieht in ihnen dann exemplarisch und in extremer Form, neben Papisten und Schwärmern, die gefährlichsten Gegner seiner Lehre von der Rechtfertigung des Sünders im Glauben an die Gnade Gottes.
Von da an verfolgt er sie mit seinen Hetztiraden, wo immer er dazu Gelegenheit hat. Wen wundert es da, wenn 400 Jahre später einer der Haupteinpeitscher der verbrecherischen Naziideologie, Julius Streicher, Herausgeber des national-sozialistischen Hetzblattes "Der Stürmer" sich in seiner Verteidigungsrede vor dem internationalen Militärtribunal in Nürnberg auf Martin Luther beruft und folgendes ausführt:
"Dr. Martin Luther säße heute sicher an meiner Stelle auf der Anklagebank, wenn dieses Buch (Luthers Schrift "Von den Juden und ihren Lügen", 1543) von der Anklagevertretung in Betracht gezogen werden würde".
Dazu schreibt K. Deppermann in seiner Abhandlung über "Judenhaß und Judenfreundschaft im frühen Protestantismus" (ihr verdanke ich sämtliche im Folgenden aufgeführten Zitate):
"Streichers Berufung auf Martin Luther war keineswegs absurd; denn das Bild vom jüdischen Charakter, das der Reformator in seinen Spätschriften entworfen hatte, stimmte überein mit dem, was 'Der Stürmer' zwanzig Jahre lang unentwegt vom Judentum behauptet hatte, nämlich, dass es unheilvoll korrupt sei."
Aber das war ja nur ein Vorwurf, den Luther in seinen Spätschriften gegenüber den Juden erhoben hatte. Er machte den Obrigkeiten in der o.g. Schrift sieben Vorschläge, wie sie mit den Juden umgehen sollten. Diese "decken sich weitgehend mit den Anweisungen zur Reichskristallnacht, die Josef Goebbels im November 1938 ausgab." (Deppermann ebd. S.124 ):
Originalton Luther:
- Erstlich, das man jre Synagoga oder Schule mit feur anstecke und, was nicht verbrennen will, mit erden überheufe und beschütte, das kein Mensch ein stein oder schlacke davon sehe ewiglich. Und solches sol man thun, unserem Herrn und der Christenheit zu ehren damit Gott sehe, das wir Christen seien.
- Zum anderen, das man auch jre Heuser des gleichen zerbreche und zerstöre, Denn sie treiben eben dasselbige drinnen, das sie in jren Schulen treiben. Dafur mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall thun, wie die Zigeuner, auff das sie wissen, sie seien nicht Herren in unserem Lande...
- Zum dritten, das man jnen nehme all jre Betbüchlein und Thalmudisten, darin solche Abgötterey, lügen, fluch und lesterung geleret wird.
- Zum vierten, das man jren Rabinen bey leib und leben verbiete, hinfurt zu leren ...
- Zum fünften, das man den Jüden das Geleid und Straße gantz und gar auffhebe ...
- Zum sechsten, das man jnen den Wuucher verbiete und neme jnen alle barschafft und kleinot an Silber und Gold, und lege es beiseit zu verwaren...
- Zum siebenden, das man den jungen, starcken Jüden und Jüdin in die Hand gebe flegel, axt, karst, spaten, rocken, spindel und lasse sie jr brot verdienen im schweis der nasen.
"Sollten die Juden mit diesem Helotendasein nicht zufrieden sein, wie zu erwarten ist, so muß man sie nach dem Beispiel Spaniens und Frankreichs aus dem Lande jagen." (Deppermann ebd.)

Erst ziemlich spät habe ich diese ungeheuerlichen dunklen Seiten des Reformators kennengelernt. Umso mehr haben sie mich erschüttert. Wurde mir doch in meiner Kindheit und Jugend dieser Mann als die große Leuchtgestalt des Protestantismus vermittelt. Als Gründer meiner evangelischen Kirche schien er mir nur wenig bedeutsamer als Jesus selbst zu sein.
Diese Verehrung schlug sich ja auch schon in meiner Familiengeschichte nieder. Vater und zweitältester Bruder -wen wunderts- erblickten wie der "große Deutsche" am 10. November das Licht der Welt. Mein Vater hieß Heinrich-Martin, der Bruder bekam den Vornamen Martin...
Das Reformationsfest 2008 liegt schon wieder hinter uns. In unzähligen Predigten weltweit wurden wieder einmal die Verdienste des Glaubenshelden gepriesen und das "protestantische Prinzip" geschärft. Ist es da nicht ein Gebot der historischen und moralischen Redlichkeit, auch die dunklen Seiten des Reformators zu beleuchten? Weh dem Volk, das Helden nötig hat. Den Spruch hab ich mal irgendwo aufgelesen. Er gilt m. E. auch für die evangelische Kirche. Wir brauchen keine "Säulenheiligen".
Die Schriften des älteren Luther haben eine barbarische Wirkungsgeschichte mitverursacht. Dem müssen sich, besonders auch die Bewunderer des "großen Deutschen" stellen. Es genügt nicht, vor den "Rattenfängern" in unseren Zeiten zu warnen und über ihre Gefährlichkeit aufzuklären. Auch das Rattenfängerische von ansonsten positiven historischen Persönlichkeiten muss deutlich gemacht werden, um einer Wiederholungsgefahr vorzubeugen. Hatte Luther sich in seinen früheren Schriften gegen den christlichen Wucher in Gestalt der Fugger und Welser gewandt, so greift er ab 1543 dies populäre Motiv des Judenhasses auf. Hier noch einige Zitate aus den Spätschriften des M. L., die diesem Zwecke dienlich sein können.
Der Odem stinckt inen nach der Heiden Gold und Silber, denn kein Volk unter der Sonnen geitziger, denn sie ( die Juden ) sind, gewest ist, noch sind und immer fort bleiben, wie man sihet an irem verfluchten Wucher ... Ja wol, sie halten uns Christen in unsern eignen Land gefangen, sie lassen uns erbeiten im nasen schweis, gelt und gut gewinnen, sitzen sie die weil hinter dem Ofen, faulentzen, pompen und braten birn, fressen, sauffen, leben sanft und wol von unserem ererbeitem gut, haben uns und unser güter gefangen durch iren verfluchten Wucher ... Sind also unsere Herren, wir ihre Knechte ...
Drumb, wo du einen rechten Jüden sihest, magstu mit gutem gewissen ein Creutz fur dich schlahen, und frey sicher sprechen: Da geht ein leibhaftiger Teufel.
Schon in einem Tischgespräch im Jahre 1532 blitzt ein quasi mörderischer Judenhass in Luthers Gedankenwelt auf:
Wan ich einen fromen Juden mehr überkomme tzu tauffen, so wil ich ihn also balt nach der tauffe auff die Elbbruk furen und eynen stein am hals hencken und ins wasser sturtzen. (ebd.)
So, mir reichts, mir wird übel angesichts dieser Verirrungen des Reformators. Der Held meiner Kindheit ist vom Sockel gestürzt. Mag er einen gnädigen Richter finden, meine Bewunderung hat er verloren.
Wenn Ihr bis hierhin beim Lesen gekommen seid, wünsche ich Euch noch einen schönen nachreformatorischen Sonntag.
Heftrich d. 01. 11. 08
Euer F. W. Siebert

der Text ist entnommen der Seite: https://www.juedspurenhuenfelderland.de/antisemitismus/martin-luther/

 

 

Im folgenden eine Recherche von Frau Sternberg-Siebert über die letzten buchenauer Juden.

Die Familie Rosenstock - Teil I

Von der einstigen jüdischen Gemeinschaft in Buchenau lebten im September 1942 in der heutigen Hermann-Lietz-Straße 3 nur noch die unverheirateten Geschwister Rosenstock: Manchen (*1869), Helene (*1871), Veilchen (*1873), Malchen (*1881) und Levi (*1885).

Sie entstammten einer alteingesessenen und angesehenen Buchenauer Familie.

1) Abraham Rosenstock

Der erste Buchenauer Rosenstock -soweit bisher feststellbar- war Abraham.

2) Hesekiel (Hess) und Veigel Rosenstock

Abrahams Sohn Hesekiel (Hess) Rosenstock (*1754) ehelichte im Jahr 1790 eine junge Frau namens Veigel (*1767). Sie brachte vier Kinder zur Welt:

Abraham (1798 - 1845), Menachem (Manchen, 1806 - 1868), Ettel (Edel *1807), Reis (*1811)

- Abraham heiratete 1827 Breinchen Oppenheim. Das Ehepaar bekam fünf Kinder in Buchenau, von denen drei im frühen Kindesalter starben, aber die beiden ältesten, Menachem (*1828) und Sarah (*1831) das Erwachsenenalter erreichten. Menachem zog nach Hamburg (FHR), wo er den Beruf eines Schächters ausübte. Er war zweimal verheiratet und hatte 6 Kinder. Sarah (FHR) lebte später offenbar in Berlin, wo sie sich im Jahr 1909 evangelisch taufen ließ und den Namen Rosalie annahm.

- Menachem (Manchen) blieb in Buchenau ansässig.

- Ettel heiratete nach außerhalb einen Isak Nußbaum.

- Reiss (auch Röschen) wurde im Jahr 1839 die zweite Ehefrau von Mendel Katz in Neumorschen. (FHR)

Hesekiel, der in der jüdischen Gemeinde eine hervorgehobene Stellung (Chaber) inne hatte, auch als Rabbi bezeichnet wurde, starb am 4. 4. 1830, Veigel am 11. 5. 1845. Beide wurden auf dem jüdischen Sammelfriedhof in Burghaun begraben.

Hesekiel, Sohn des Abraham Rosenstock, 1754 - 1830

Hesekiel, Sohn des Abraham Rosenstock, 1754 - 1830

Hier ruht

ein redlicher Mann, der auf

dem Wege des Guten wandelte.

In Treue waren seine Werke.

Das ist der Chaber R. Jecheskel,

Sohn des Abraham aus Buchenau.

Er ging ein in seine Welt

mit gutem Namen

(am) 11. Nisan 5590

Seine Seele sei eingebunden

im Bunde des Lebens!

 

Veigel, Frau des Hesekiel TRosenstock, 1767 - 1845

Veigel, Frau des Hesekiel TRosenstock, 1767 - 1845

Hier ruht

eine achtbare,

züchtige und fromme Frau,

Frau Veigel, Ehefrau des

Chaber R. Jecheskel

aus Buchenau.

Gestorben und begraben

[am] 4. Iyyar 5605.

Ihre Seele sei eingebunden

im Bunde des Lebens!

 

 

 

3) Menachem (Manchen) Rosenstock und Dina geb. Löbenstein

Der Handelsmann Manchen (Menachem) Rosenstock war von Beruf angeblich Schneider (laut Stammbaum Rosenstock), offenbar aber auch Gastwirt – als solcher wird er in seiner Sterbeurkunde und der seines Sohnes Hesekiel bezeichnet. Außerdem war er als Synagogenältester der jüdischen Gemeinde Buchenau ein sehr angesehener Mann. 1833 heiratete er Dina Löbenstein (*1798) in Buchenau. Das Ehepaar bekam drei Kinder:

Hesekiel (*1834 - 1905), Levi (1837 – 1896), Abraham (1840 – 1903).

Levi und Abraham ließen sich im benachbarten Eiterfeld nieder, während Hesekiel in Buchenau ansässig blieb und offenbar als Ältester den väterlichen Betrieb weiterführte.

Dina geb. Löbenstein,  Frau des Manchen Rosenstock,              1798 - 1856

Dina geb. Löbenstein, Frau des Manchen Rosenstock, 1798 - 1856

Hier ruht

eine rechtschaffene,

liebliche Frau. Ihr Wandel

war in Redlichkeit.

Sie übte Wohltätigkeit

all ihre Tage

und achtete behutsam

auf die Pflichten der Frauen

ihr Leben lang.

Das ist Frau Dina,

Ehefrau des Menachem,

Sohn des ehrw. R. Jecheskel

 

 

Menachem (Manchen), Sohn des Hesekiel Rosenstock, 1808 - 1868

Menachem (Manchen), Sohn des Hesekiel Rosenstock, 1808 - 1868

Hier ruht

ein weiser geachteter und

redlicher Mann. Viele Jahre

war er Vorsteher seiner Gemeinde

in Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit.

D. i. das Haupt der Gemeinde

und Leiter der Versammlung,

Menachem, Sohn des ehrw.

R. Jecheskell, aus Buchenau.

Gestorben am Samstag und

begraben am Sonntag, 3. Sivan

5628 nach der kl. Zählung.

Seine Seele sei eingebunden

im Bunde des Lebens!

  

4) Hesekiel (Hess) Rosenstock und Hanchen geb. May

Hesekiel (Hess) Rosenstock heiratete 1862 Hanchen May (*1840), Tochter des Thoraschreibers Nathan May und seiner Ehefrau Eva geb. Löbenstein in Raboldshausen. Hess Rosenstock war von Beruf Metzger und betrieb in Buchenau eine Gastwirtschaft mit Metzgerei. Das ist auch bestätigt durch einen Eintrag im Buchenauer Geburtsregister, wo er 1875 bei der Anzeige der Geburt seiner Tochter Mina als Handelsmann und Gastwirt, wohnhaft im Haus Nr. 81, eingetragen ist.

Das Ehepaar Hanchen und Hess Rosenstock bekam 12 Kinder, die alle in Buchenau das Licht der Welt erblickten:

  1. Nathan, geb. 1863, gest. 1932 in Buchenau (Großvater von Shlomith Eisenberg)
  2. Dina, geb. 1865 (1886 USA, heiratet in Chicago Ferdinand Reiner, gest. 1948) **
  3. Simon, geb. 1867 (1885 New York, Buchhändler/Graveur in Chicago, gest. 1948) **
  4. Manchen, geb. 1869 (Holocaust/29. 9. 1942 Treblinka)
  5. Helene (gen. Lina), geb. 1871 (Holocaust/29. 9. 1942 Treblinka)
  6. Feilchen (gen. Fanny), geb. 1873 (Holocaust/9. 9. 1942 Theresienstadt
  7. Mina, geb./gest. 1875
  8. Moses, geb./gest. 1877
  9. Berta, geb. 1879, gest. 1942 in Buchenau
  10. Malchen, geb. 1881, Holocaust/4. 4. 1943 Theresienstadt
  11. Abraham, geb. 1883, gefallen 1916 im 1. Weltkrieg (FHR)
  12. Levi, geb. 1885, Holocaust/23. 1. 1943 Auschwitz

 

Die Eltern Hesekiel und Hanchen Rosenstock starben beide im Jahr 1905 in Buchenau und wurden auf dem zuständigen jüdischen Friedhof in Burghaun begraben.

Wie aus der obigen Aufstellung hervorgeht starben Mina und Moses als Säuglinge, Abraham fiel 1916 im ersten Weltkrieg. Der Lebensweg von Dina und Simon ist unbekannt. In den 1930er Jahren waren noch und wieder in Buchenau ansässig: Nathan, Manchen, Helene (Lina), Feilchen (Fanny), Berta, Malchen und Levi.

Das Gebäude, in welchem sich die Gastwirtschaft befunden hatte, ist noch heute -bis auf eine Verkleidung der Außenwände- fast unverändert in der Hermann-Lietz-Straße 3 (Jung) erhalten. 

5) Familie Nathan Rosenstock

Der älteste Sohn von Hesekiel und Hanchen Rosenstock, der Handelsmann Nathan Rosenstock (*1863), heiratete am 5. Juli 1892 in Nordhausen Henriette (Jettchen) Dessauer (*28.5.1862 in Ellrich), Tochter der verstorbenen Eheleute Seelig und Ester Dessauer. Zunächst lebte Nathan mit seiner Frau in Nordhausen, wo die beiden ältesten von vier Kindern zur Welt kamen: 

Else, geb. am 7.1.1895 in Nordhausen

Selmar, geb. am 30.1.1896 in Nordhausen

Dora, geb. am 14.8.1900 in Buchenau

Rosa, geb. am 7.7.1904 in Buchenau

Offensichtlich ist Nathan Rosenstock gegen 1900 mit seiner Frau Henriette und den Kindern Else und Selmar wieder zurück nach Buchenau gezogen. Die Familie wohnte in Buchenau zuerst im Haus Nr.16, später bis zuletzt im Haus Nr. 76 in unmittelbarer Nähe der übrigen Geschwister Rosenstock (Gastwirtschaft) in der heutigen Hermann-Lietz-Straße. Die Kinder von Nathan und Henriette wuchsen in Buchenau auf und besuchten die jüdische Volksschule in Eiterfeld, die mit Unterbrechungen bis 1933 bestand.

Nathan Rosenstock war in seiner letzten Lebenszeit sehr krank, er litt an Darmkrebs und einer Herzschwäche. Eine alte Buchenauerin erinnert sich daran, dass er bettlägerig war und dass man ihn sehr selten draußen auf der Straße gesehen habe: „Er lag nur im Bett, war immer krank im letzten Jahr. Er hat immer einen Hund vor dem Bett liegen gehabt.“ Am 6. Dezember 1932 starb Nathan Rosenstock, zwei Tage später wurde er auf dem jüdischen Friedhof in Burghaun begraben. Seine Witwe Henriette Rosenstock starb gut zwei Jahre nach ihm am 23. März 1935, sie wurde ebenfalls auf dem "guten Ort" in Burghaun zur letzten Ruhe gebettet.

 

Nathan Rosenstock, 1863 - 1932
Nathan Rosenstock, 1863 - 1932

Henriette Rosenstock, 1862 - 1935

Henriette Rosenstock, 1862 - 1935

Die ledigen Geschwister Rosenstock

Nathans Bruder Manchen (*1869) hatte den Handelsbetrieb des Vaters Hesekiel (Heß) Rosenstock mit Gastwirtschaft und Schlachterei übernommen. Mit ihm im Haus in der heutigen Hermann-Lietz-Straße 3 lebten seine Geschwister Helene (Lina, *1871), Feilchen (Fanny, *1873), Berta (*1879), Malchen (*1881) und Levi (*1885).

 

Stolpersteine

für die ermordeten Geschwister
Rosenstock  ...


Artikel: Hünfelder Zeitung vom 16.12.2011

   

Nathans Tochter Dora schilderte 1954 in Briefen an ihre Schwester Rosa in Darmstadt, die sich um die Angelegenheiten der sog. „Wiedergutmachung“ kümmerte, die frühere Lebenssituation der Geschwister Rosenstock. Über die Tanten berichtete sie:

„Tante Lina (Helene) war 27 Jahre bei einer Familie als Hausdame in Kassel, Tante Fanny (Veilchen) 30 Jahre in Nordhausen, ebenso Tante Berta.“ Wann die Tanten wieder nach Buchenau zurückgekehrt waren, weiß man nicht, vermutlich aber in den 1920er Jahren. Weiter schrieb Dora: „Unser Onkel Manchen mit Geschwistern war immer in guten Verhältnissen. Umsonst wurde er nicht der Baron genannt. Derselbe hatte einen Großviehhandel, Metzgerei, Obstversandtgeschäft, Güterhandel und Gastwirtschaft, welches die Buchenauer auch bestätigen können.“ Am Schluss einer Aufstellung über das gesamte Inventar des Anwesens Nr. 81 fasst Dora zusammen: „Alles in Allem: das Haus war ein reiches Haus, und was ich Dir da aufstelle, entspricht der Wahrheit, denn jeder Gegenstand wird mir immer vor Augen bleiben.“

Wenn auch Dora in ihrer Erinnerung an die Verwandten hinsichtlich deren Wohlhabenheit etwas übertrieben haben mag, so kann man insgesamt aufgrund von verschiedenen Zeugenaussagen davon ausgehen, dass die Geschwister Rosenstock vor 1933 durchaus gut situiert und eingerichtet waren und dass Doras Einschätzung zutrifft:

„Die Metzgerei ging gut, der Obst- und Grundstücksverkauf hat Verdienste eingebracht, und auch die Gastwirtschaft ging gut. Nachdem aber der Antisemitismus anfing, hörte alles auf und den Onkels und Tanten ging es schlecht. Die Buchenauer, am meisten Familie Leister, können das auch bestätigen.“ So war bei Doras Auswanderung 1934 die Geschäftslage bereits so beeinträchtigt, dass sich aufgrund der Hetze durch einen gewissen Herrn F. „schon kein Buchenauer mehr ins Haus getraute.“

Novemberpogrom 1938

Ein besonders schlimmes Erlebnis kam dann mit der Reichspogromnacht vom 10. November 1938 auf die Juden zu. Eine frühere Buchenauer Nachbarin erinnert sich, dass Banditen von der SA die Fenster eingeschmissen haben, ins Haus eingedrungen sind und die Rosenstocks im Haus tyrannisiert haben. Den Lärm und das Wehgeschrei hätte man bis auf die Straße und bis zu ihnen gehört, es sei ganz schrecklich gewesen. Ihre Mutter, die krank zu Bett lag, hätte geweint, ihr Vater auch, aber aus Angst hätte niemand gewagt, etwas dagegen zu unternehmen. „Wer wollte denn gegen die SA an, der wäre sofort eingesperrt worden, wäre sofort in das Lager gekommen.“ Und auf die Frage nach den Verbrechern: „Das waren Einheimische, das weiß ich, dass das Einheimische waren. Die waren alle nicht so jung, da waren auch schon Ältere dabei. Die SS war hier in dem Spiegelschloss (eine dort einquartierte SS-Abteilung), aber die haben nichts gemacht. Die haben Rosenstocks nichts gemacht. Wir hatten vor der SA mehr Angst als vor der SS.“ Ansonsten hätten die Nachbarn den Rosenstocks in der Notzeit durchaus geholfen – ihnen bei Dunkelheit etwas zugesteckt, ein paar Eier, Milch usw., wie das auf den Dörfern so üblich war.

Mit Wirkung vom 1. Januar 1939 musste Manchen Rosenstock gemäß Nazi-Verordnung seinen Betrieb endgültig schließen. Um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, mussten die Geschwister Grundstücke verkaufen und ihre Ersparnisse verbrauchen. „Einkaufen konnten sie noch bei Frau Baumgart“, erinnert man sich in Buchenau. „Die hatte ein Kolonialwarengeschäft, da haben sie gekauft. Das weiß ich, ich war oft drin, als sie da gekauft haben“.

Zu den Alltagssorgen gesellte sich schwere Krankheit. Am 20. Mai 1940 verfasste Berta ihr Testament, in dem sie an ihre Geschwister schrieb: „Wir stehen alle in Gottes Hand, und da ich leider sehr krank bin, so ist es mein letzter Wunsch, dass das Geld, welches ich in Hersfeld auf der Sparkasse habe, Schwester Malchen gehört. Dem Waisenhaus in Kassel sendet davon zwanzig Mark für mein Seelengebet. Auch möchte ich Euch bitten, nicht länger als 4 Wochen zu trauern. Seid weiter recht gut gegen arme Leute, wie Ihr es bisher wart. Lasst Euch, Ihr Lieben, nicht der Abschied so schwer fallen, denn Ihr wisst ja, was ich gelitten habe und sterbe gerne, auch haben alle Sorgen dann ein Ende. Dieses habe ich G.s.D. (Gott sei Dank) mit meinem vollen Verstand geschrieben und hoffe, dass es beim Gericht Gültigkeit hat.“

Fast zwei Jahre musste Berta aber noch auf die Erlösung von ihrem Leiden warten, bis sie am 2. Februar 1942 starb. Die Buchenauerin Frau R. erinnert sich noch sehr genau daran, dass ihre Mutter damals den Sarg auf seiner Fahrt mit dem Pferdefuhrwerk zum jüdischen Friedhof in Burghaun ein Stück des Weges begleitet habe. Für das Begleiten einer Jüdin wollte sie die Leiterin der örtlichen NS-Frauenschaft bestrafen, wogegen sich die Mutter energisch gewehrt habe, etwa so: “Wenn Sie nicht sofort die Tür in die Hand nehmen und rausgehen, dann schmeiß ich Sie raus, das war meine beste Freundin, und da werd ich wohl mitgehen dürfen”. Allerdings bekam Berta Rosenstock keinen Grabstein mehr gesetzt, sodass man nicht weiß, wo sich ihre letzte Ruhestätte befindet.

Wie ihre Schwester, so hatte auch Veilchen (Fanny) am 14. Juni 1942 ihr Testament gemacht, da sie sehr krank und bettlägerig war. Notariell vererbte sie im Falle ihres Todes ihren vier Geschwistern ihre kleinen Ersparnisse. In beiden Fällen hatten aber die Erben aufgrund der Naziwillkür nichts mehr von ihrem Erbe, die beiden Testamente wurden erst im Jahr 1947 eröffnet.

Auch für Veilchen Rosenstock kam die Todesstunde nicht so schnell wie erhofft. Sie fand ihre letzte Ruhe nicht mehr auf dem "Guten Ort" in heimischer Erde, sondern starb im fernen Konzentrationslager Theresienstadt, wohin sie etwa elf Wochen später mit ihren Geschwistern deportiert wurde.

Deportation

Von dem bevorstehenden Abtransport müssen sie schon gewusst und sich darauf vorbereitet haben. Eine frühere Nachbarin erinnert sich, dass Levi eines Abends noch einmal zu ihrem Vater, der Schuster war, kam und Schuhe brachte. „Er kam abends und hat geklopft. Die Juden durften ja nicht mehr so raus, es war doch schon Sperre (Nazi-Ausgehverbot nach 20 Uhr im Winter / 21 Uhr im Sommer), und weil nebenan in dem Spiegelschloss die SS gewohnt hat, waren sie sehr vorsichtig. Levi kam also mit Schuhen -von jedem der Geschwister ein Paar- und sagte: 'Konrad, wir haben sicher einen großen Marsch vor uns, machst Du mir die Schuhe noch einmal, damit wir gute Schuhe an den Füßen haben!'. Da hat mein Vater gesagt: 'Das mach ich Dir, ich mach sie gleich morgen!' Und da kam er dann am anderen Abend, hat wieder geklopft, und mein Vater hat ihm die Schuhe gegeben. Das weiß ich, weil ich dabei war. Und der Levi hat gefragt: 'Was soll ich zahlen?' 'Nichts', hat mein Vater gesagt, und der Levi hat gedankt und ist fortgegangen. Und da hat mein Vater noch gefragt: 'Wo wollt ihr denn jetzt hin?' - 'Wir wissen es nicht, ich weiß nicht, wann wir abgeholt werden.'

Der Tag der Deportation nach Theresienstadt war der 5. September 1942. Erhaltene Dokumente legen folgenden Ablauf nahe: Die fünf Geschwister Rosenstock hat man am Morgen unter Polizeibewachung zum Eiterfelder Bahnhof gebracht, ob zu Fuß oder mit einem Fuhrwerk - schließlich war Fanny bereits im Juni krank und bettlägerig - das wissen wir nicht. Die Rosenstocks bestiegen den Zug um 10.41 Uhr ab Bahnhof Eiterfeld, der sie zunächst nur bis Hünfeld fuhr. Dort müssen sie auf den Nachmittagszug gewartet haben, der sie dann um 15.50 Uhr zusammen mit den Leidensgenossen aus den Kreisen Fulda und Hünfeld weiter Richtung Kassel beförderte. Am übernächsten Tag, dem 7. September, startete der Deportationszug ab Kassel ins Ghetto Theresienstadt. - Alle fünf Geschwister wurden Opfer der NS-Mordmaschinerie:

Manchen (Menachem) wurde von Theresienstadt weiter nach Treblinka verschleppt, sein Todesdatum ist der 29. September 1942.

Helene (gen. Lina) wurde von Theresienstadt ebenfalls nach Treblinka deportiert, ihr Todeszeitpunkt ist gleichfalls der 29. September 1942.

Veilchen (gen. Fanny) hat die Strapazen der Verschleppung nach Theresienstadt nicht überlebt, sie starb am 9. September 1942 - entweder noch auf der Fahrt oder gleich nach ihrer Ankunft.

Malchen starb in Theresienstadt am 4. April 1943.

Levi wurde von Theresienstadt weiter nach Auschwitz deportiert, sein Todesdatum ist der 23. Januar 1943.

Raub des Vermögens - Ausschnitt aus einer Akte des FinanzamtesRaub des Vermögens - Ausschnitt aus einer Akte des Finanzamtes

 Das Haus in Buchenau mit dem zurückgebliebenen Hausrat wurde versiegelt und die gesamte Einrichtung kurz darauf öffentlich versteigert und „verwertet“, wovon auch etliche Buchenauer Gebrauch machten. Die im Grundbuch von Buchenau „eingetragenen Grundstücke sind am 29. Oktober 1942 auf das Deutsche Reich umgeschrieben worden.“ Als wenig später die „Hermann-Lietz-Schule Schloss Buchenau“ das Haus Rosenstock anmietete, war es leer und „ohne jede Einrichtungsgegenstände“, wie der frühere Schulleiter an Eidesstatt erklärte.

Dieses beschämende und traurige Schlusskapitel eines in guten Zeiten auch harmonisch verlaufenen christlich-jüdischen Zusammenlebens markiert das Ende einer alteinge-sessenen und angesehenen Buchenauer Familie – nur weil ihre Mitglieder Juden waren.

6) Die Kinder von Nathan und Henriette Rosenstock

Else (1895-1992)

heiratete 1920/21 Dr. David Liebrecht (gest. 1986) in Israel. Sie starb dort am 13. Sept. 1992. Das Ehepaar Liebrecht hatte drei Töchter:  Ruth, Hanna, Shlomit.

Selmar (*1896-1956) 

wanderte wie Else und Dora nach Israel aus. Er heiratete Ida Marks (1903-1982) und hatte mit ihr die Söhne Horst und Nathan. - Selmar starb 60-jährig bereits 1956, die Nachkommen leben in Israel.

Dora (geb. 1900, gest. in Israel)

heiratete am 24. Juni 1923 in Buchenau den Diplomkaufmann Hermann Marks (*1896 in Rimbach Kreis Heppenheim, gest. 1980 in Israel), wohnhaft in Frankfurt a.M. Das Ehepaar bekam vier Kinder:  Helmut (Jehuda), Hanna, Chaim und Esther. Die Familie lebte seit 1934 in Israel.

Auf dem Grundstück dieser Scheune in der Hermann-Lietz-Straße befand sich das Anwesen von Nathan und Henriette Rosenstock.

Das Foto zeigt deren Enkelin Shlomit Eisenberg geb. Liebrecht bei ihrem Besuch in Buchenau im Juni 2003.

Rosa (1904-1982)

Rosa heiratete 1932 in Darmstadt Ludwig Hansel (*1906 in Helpersheim), einen christlichen Mann aus Helpersheim im Vogelsberg. Sie überlebte mit ihm die bittere NS-Verfolgungszeit. Von Rosa und ihrer Familiengeschichte wird im nächsten Kapitel die Rede sein.

Rosa und Ludwig

Rosa (geb. am 7. Juli 1904), die nach Buchenauer Erinnerungen ein schönes Mädchen war, lebte als die jüngste Tochter von Nathan und Henriette Rosenstock am längsten im elterlichen Haus.  Als unverheiratete "Haustochter" war sie später in Münster /Westfalen beschäftigt, wo 1925 in der Universitätsklinik ihr Sohn Hans geboren wurde. Sie sei dann in Frankfurt "in Stellung", d.h. in einem Haushalt tätig  gewesen, daher wuchs Hänschen bei den Großeltern in Buchenau auf.

Am 30. Juli 1932 heiratete Rosa in Darmstadt Ludwig Hansel, einen christlichen Staatsbeamten (geb. am 12. Juli 1906 in Helpershain Krs. Schotten), der seit 1922 in Darmstadt ansässig war.

Rosas Ehe mit einem nichtjüdischen Mann war für die streng religiös lebende Familie zunächst ein gewisses Problem – ähnlich inakzeptabel wie es gemischt konfessionelle Ehen auch bei Katholiken und Protestanten waren. So wurde über Rosas Leben in den Geschwister-Familien wenig gesprochen, zumal sie als einzige nach dem Tod der Eltern fernab in Deutschland lebte und der Weltkrieg dann die Kontakte zusätzlich erschwerte. Den Übertritt zur evangelischen Kirche muss Rosa ihrem Ludwig zuliebe getan haben, der anscheinend kirchlich recht engagiert war. Vielleicht versprach man sich davon aber auch einen Schutz gegenüber der 1933 einsetzenden Judenhetze. Dennoch blieb Rosa dem Judentum zeit ihres Lebens eng verbunden, was von ihrem Mann verständnisvoll mitgetragen wurde. Das kam besonders darin zum Ausdruck, dass außer den christlichen auch die jüdischen Feiertage in ihrem Hause gebührend begangen wurden.

Dass Rosa nun evangelisch war, bot ihr zu Beginn der NS-Verfolgungszeit vielleicht wirklich einen gewissen Schutz, später jedoch nicht mehr. Denn nach der Definition des rassistischen Nazi-Gesetztes "zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" ("Nürnberger Gesetze") vom 15. September 1935 war sie Jüdin. Daher blieb ihr schließlich auch das Konzentrationslager nicht erspart.

Ludwig Hansel (links) mit Walter Strauß, einem Verwandten von RosaLudwig Hansel (links) mit Walter Strauß, einem Verwandten von Rosa

Wie Rosa und Ludwig diese gefahrvolle Zeit trotzdem überlebt haben, kann nur bruchstückhaft aus Briefen, Dokumenten und einigen Recherchen rekonstruiert werden:

Da seit dem Erlass der "Nürnberger Gesetze" Eheschließungen zwischen Juden und "Ariern" verboten waren, befand sich das Ehepaar Hansel gewissermaßen in einer illegitimen Beziehung, d.h. der nichtjüdische Partner war "jüdisch versippt" (Nazi-Sprachregelung) und wurde zur Scheidung gedrängt. Wer dem jüdischen Ehepartner die Treue hielt lebte sehr gefährlich, was Ludwig Hansel noch bitter zu spüren bekommen sollte. Auch der häufige Wohnungswechsel in Darmstadt zwischen 1933 und 1944 könnte ein Hinweis auf immer wieder drohende Gefahren und Unsicherheiten sein.

Als Ludwig Hansel 1932 seine Rose -so nennt er sie in Briefen- heiratete, war er offenbar schon im Staatsdienst tätig. Eine Trennung von seiner jüdischen Frau, wie es die Nazis von den Staatsbeamten verlangten, kam für ihn nicht in Frage, was schlimme Folgen für ihn hatte: Er wurde nämlich aus dem Staatsdienst geworfen. In welchem Jahr dies geschah, geht aus den verwendeten Unterlagen nicht hervor, auch nicht, wovon Ludwig und Rosa weiterhin ihren Lebensunterhalt bestritten.

Der Rauswurf aus dem Staatsdienst hat den Nazis offenbar noch nicht genügt, auf Ludwig kamen mit dem Krieg noch härtere Strafen zu.

Nachdem er als „jüdisch versippter“, entlassener Staatsbeamter für wehrunwürdig befunden war, steckte man ihn in eine Strafkompanie, die später der Organisation Todt zugeteilt wurde. Hier musste er bis Kriegsende schuften – bis schließlich die Amerikaner kamen und Ludwig seine Befreiung ganz nahe glaubte. Doch er sah sich getäuscht:

„Ich kam aus dem Zwangsarbeitslager in amerikanische Gefangenschaft. Ich trug den Wehrpass mit dem Wehrunwürdigkeitsvermerk bei mir. Es ist dem Amerikaner nicht eingefallen, mich daraufhin zu entlassen. Er übergab mich den Franzosen, und da ich einen Arbeitsanzug der Organisation Tod trug, der wir als Strafkompanie zugeteilt waren, und dieser Anzug das Nazibraun trug, wurde ich von Franzosen geschlagen. Ich war dann drei Jahre lang in französischer Gefangenschaft, habe dabei auch sehr gute Franzosen kennengelernt, aber geholfen hat mir keiner.“ Und weiter drückt er seine Enttäuschung über die Siegermächte gegenüber seiner Schwägerin Else aus: „Und der Amerikaner? Wer hat die ersten Wiedergutmachungsgesetze erlassen! Heute nach acht Jahren bin ich noch nicht dafür entschädigt, dass ich im Nazireich aus dem Staatsdienst herausgeworfen wurde!“

Rosa war von Darmstadt nach Helpershain (Geburtsort von Ludwig) gezogen, wo sie gemäß ihren Angaben von 1946 auf dem Darmstädter Meldeamt in den Jahren 1944 bis 1948 polizeilich gemeldet war. Anzunehmen ist, dass sie bei den Verwandten ihres Mannes Zuflucht suchte und fand.

In dieser Zeit wurde sie eines Tages von der Polizei verhaftet und "abgeholt".  Von Frankfurt a. M. wurde sie  dann am 14. Februar 1945 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. 

Dass sie eine Lagerhaft erlitten hat, geht aus einem notariellen Schriftsatz von 1956 im Rahmen der "Wiedergutmachung" hervor: "Frau Rosa Hansel ist die Ehefrau des Regierungsinspektors Ludwig Hansel in Darmstadt. Frau Hansel hat durch ihren Aufenthalt im KZ einen schweren Leberschaden davongetragen. Sie ist 45 % erwerbsbeschränkt, muss ständig den Arzt in Anspruch nehmen und muss immer wieder das Krankenhaus aufsuchen. ..."

So hatten Rosa und Ludwig während des Krieges eine lebensbedrohliche Zeit durchgestanden, und sicher war es für sie im Nachkriegs-Deutschland ebenfalls nicht leicht, ein neues Leben aufzubauen. Auch war Rosa die Rolle zugefallen, sich um die  sog. "Wiedergutmachung" zu kümmern, da sie als einziges Mitglied ihrer jüdischen Rosenstock-Familie in Deutschland lebte. Im Zusammenhang damit soll sie einige Male in Buchenau gewesen sein. Nach dem Ende des Krieges und ihrer Befreiung aus dem KZ hatten sich auch die Beziehungen zu Rosas Geschwistern in Israel wieder normalisiert, wozu nicht wenig Ludwigs tadellose und mutige Haltung beigetragen haben dürfte.

 

Nachdem Ludwig Hansel 1948 aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, zog man wieder nach Darmstadt und zwar in die Bessungerstraße 48, später in die Annastraße 12. Beruflich konnte Ludwig offenbar wieder im Staatsdienst Fuß fassen und in Darmstadt durch weitere Examina zum Regierungsinspektor aufsteigen. 1962 zogen Ludwig und Rosa nach Weilburg, wo sie gemeinsam bis 1980 wohnten. Rosa muss am Ende sehr krank und pflegebedürftig gewesen sein, denn sie verbrachte ihre letzte Lebenszeit in einem Altenheim in Wetzlar und zwar vom 1. August 1980 bis zu ihrem Tod am 19. April 1982. Nicht zu klären war, ob sich auch Ludwig dort aufhielt oder ob er allein in Weilburg zurück blieb. Sehr lang hat er ein Leben ohne seine Rose jedenfalls nicht mehr durchgehalten. So folgte er ihr zwei Jahre später in die ewige Ruhe und

IN GOTTES HAND.

Grabstätte von Rosa und Ludwig Hansel auf dem christlichen Friedhof in Wetzlar im September 2003.  (Foto: E. Sternberg-Siebert)Grabstätte von Rosa und Ludwig Hansel auf dem christlichen Friedhof in Wetzlar im September 2003. (Foto: E. Sternberg-Siebert)

"Hänschen"

Hans Roenstock kam am 16. Februar 1925 in Münster in der Universitäts-Frauenklinik als Sohn der „ledigen Haustochter“ Rosa Rosenstock zur Welt. Rosas Wohnung zu dieser Zeit ist mit Wolbeckerstraße 56 angegeben. Dauer und weitere Umstände ihres Aufenthaltes in Münster sind unbekannt. Tatsache ist, dass Hans bei seinen Großeltern in Buchenau bis zum Jahr 1932 aufwuchs. „Ja“, bestätigte eine frühere Nachbarin aus der heutigen Hermann-Lietz-Straße, „er hat bei denen gewohnt, und die haben ihn auch versorgt, weil Rosa nicht hier in Buchenau war, Rosa ist ja in Frankfurt gewesen. Und der ging auch hier mit uns in die Schule.“

Eintrag Hans Rosenstock aus der betr. Schülerliste im Schularchiv der Eiterfelder Gesamtschule (Dokumententeile 1-3)

Hans Rosenstock wurde am 15. April 1931 in Buchenau in die dortige Volksschule eingeschult -es muss sich um eine ein-klassige Dorfschule gehandelt haben. Für die Buchenauer Schulkinder war er nur das „Hänschen“, jedenfalls für die größeren Mädchen. Eine von ihnen, die heutige Frau P. (*1919), kann sich noch recht gut an ihn erinnern:

„Wir haben sehr viel Spaß mit ihm gehabt. Er hat seine Oma immer so geärgert. Sie wollte nicht haben, dass ihm etwas passiert, deshalb sollte er nicht fortlaufen. Die Oma hatte ja nun die Verantwortung. Da hat er immer gesagt: 'Jetzt lauf ich fort Oma, so weit ich kann lauf ich fort'. Er wollte zur Mama. Und einmal ist er gelaufen, ein ganzes Stück bis Richtung Bodes, und dort hat er sich hinter einen Busch gesetzt und hat die Oma laufen lassen. Dann hat er gerufen: 'Oma, hier bin ich doch! Ja, er war ein Filou, wenn die Jungens Streiche machten, da hat Hans nicht gefehlt. Wir haben als Kinder immer aufgepasst da oben an der Linde, wenn er der Oma abgehauen war, und meistens kam er ja eher an als die Oma. 'Oma, hier bin ich, Oma hier bin ich', das hör ich heute noch. Wenn er wieder etwas ausgefressen hatte, hat ihn die Oma eingesperrt. Dann haben wir ganz lang gerufen: 'Hänschen komm raus, wir wollen spielen!' Schließlich hat die Oma die Tür aufgemacht und er ist abgehauen. Ja, er war ein großer Wildfang.

Der Opa hat immer im Bett gelegen. Wenn wir ins Haus sind und haben gesagt, Hänschen soll rauskommen, da lag er im Bett oder er hat so einen langen Gehrock angehabt und ist mit dem Stock herumgelaufen. Und die Oma war so ein kleines Frauchen, aber flink war die, sonst hätte sie nicht immer hinter dem Hänschen herlaufen können.

Hänschen ist dann weg, er sollte was lernen. Ich meine, sie hätten gesagt, er wäre nach Frankfurt zur Mutter. Aber dass er tot ist, das weiß ich.“

Da Hänschens Großvater Nathan Rosenstock Darm-krebs hatte, bettlägerig und pflegebedürftig war, kann man sich gut vorstellen, dass Großmutter Henriette mit dem lebhaften Jungen völlig überfordert war. Er sollte aber eine gute jüdische Erziehung und Schulausbildung bekommen. Deshalb gab ihn seine Mutter in das Israelitische Waisenhaus in Kassel, eine Einrichtung, die einen sehr guten Ruf genoss. Dort verbrachte Hänschen die nächsten Jahre bis zum Abschluss der Volksschule.

Er verließ das Heim in der Giesbergstraße am 31. Mai 1939 und begann danach eine Lehre in der Israelitischen Gartenbauschule in Ahlem bei Hannover. Diese großartige Ausbildungsstätte, die 1893 gegründet worden war, musste am 30. Juni 1942 auf Befehl der Nazis ihre Tore endgültig schließen.

Hans Rosenstock war inzwischen ein junger Bursche von 17 Jahren mit einer guten Schul- und Berufsausbildung, er hätte ein gefragter Gärtner oder Landschaftsplaner werden können. Doch unter dem Naziterror war sein Schicksal vorgezeichnet. Schon seit 1941 wurde die Gartenbauschule in Ahlem von der Gestapo als Sammelstelle zur Deportation jüdischer Mitbürger aus den Regierungsbezirken Hannover und Hildesheim benutzt. 1) Von hier wurden mindestens 2.200 Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager de­portiert.

Unter den hier in den Gewächshäusern zusammengetriebenen Menschen war auch Hans Rosenstock, der einen guten Teil seiner Kindheit in Buchenau zuge-bracht hatte. Sein Name steht auf der Liste des Transportes vom 15. Dezember 1941 von Ahlem in das "Reichsjuden-ghetto" von Riga. Erwiesen ist, dass er ein Opfer des Holocaust wurde, aber wo er starb ist nicht bekannt.

Eingangstor zur früheren Israelitischen Gartenbau-schule, der heutigen Mahn – und Gedenkstätte AhlemEingangstor zur früheren Israelitischen Gartenbau-schule, der heutigen Mahn – und Gedenkstätte Ahlem
 Anmerkung:

1) Die auf dem Gelände der Gartenbauschule zusammengetriebenen Menschen mussten unter den unwürdigsten Bedingungen zum Teil in Gewächshäusern bei klirrender Kälte tage- und wochenlang leben. Sie wurden registriert und Verhören durch die Gestapo ausgesetzt. Ihnen wurden Bargeld, Wertpapiere, Sparkassenbücher und sonstige Wertgegenstände und Schmucksachen abgenommen. Das Gepäck wurde durchsucht, Leibesvisitationen durchgeführt und das "Beutegut" in der Turnhalle gesammelt und später der Oberfinanzdirektion in Hannover ausge­händigt.

Diese und weitere Informationen sind den Veröffentlichungen der Gedenkstätte in Ahlem zu entnehmen. 

 

Mehr zur Gartenbauschule:

Quellen:

Folgende Quellen wurden für die Familiengeschichte Rosenstock verwendet:

  • Sammlung Sternberg-Siebert, in welcher Dokumente, Bilder, Zeitzeugenberichte, Briefe, usw. in Kopie oder Original vorliegen
  • Elisabeth Sternberg-Siebert: Jüdisches Leben im Hünfelder Land – Juden in Burghaun, Michael Imhof Verlag, Petersberg, 2. Aufl. 2008
  • Forschung Horst Rosenstock (FHR) in: Genealogien jüdischer Familien in Nordhessen / Rosenstock aus Buchenau 

Der Text ist der Seite von Elisabeth Sternberg-Siebert entnommen die ihn freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.

Weiterführende Links

http://juden-in-eiterfeld.de

http://www.phoque.org/Jewish_life_in_Burghaun_and_the_county_of_Huenfeld/listd.htm#Buchenau

http://juedspurenhuenfelderland.jimdo.com/die-j%C3%BCdischen-gemeinden/buchenau/

http://www.juden-in-nordhessen.co.de/

Quellen:

Folgende Quellen wurden für die Familiengeschichte Rosenstock verwendet:

  • Sammlung Sternberg-Siebert, in welcher Dokumente, Bilder, Zeitzeugenberichte, Briefe, usw. in Kopie oder Original vorliegen
  • Elisabeth Sternberg-Siebert: Jüdisches Leben im Hünfelder Land – Juden in Burghaun, Michael Imhof Verlag, Petersberg, 2. Aufl. 2008
  • Forschung Horst Rosenstock (FHR) in: Genealogien jüdischer Familien in Nordhessen / Rosenstock aus Buchenau